21.04.2021

PRESSEMITTEILUNG (DE/EN): Bei welchen Kunststoffprodukten ist der biologische Abbau eine sinnvolle End-of-Life-Option?

Das Projekt BioSinn fand Produkte und Anwendungen, für die biologischer Abbau am Lebensende eine echte Option darstellt. 25 Steckbriefe beantworten für jede Anwendung technische und regulatorische Fragen. Auch das Marktvolumen dieser Anwendungen wurde geschätzt: Es sind in Deutschland etwa 170.000 Tonnen*, in der Europäischen Union etwa 1 Million Tonnen pro Jahr! 

In der EU gelangen mehrere Millionen Tonnen Kunststoffe in die Umwelt. In die Natur, in Gewässer, in den Kompoststrom – jedes Jahr, ungehindert. Einmal dort gelandet, ist eine Rückführung in den Recyclingstrom oft nahezu unmöglich: zu kleinteilig, unauffindbar, zu aufwendig. Aber es gibt auch Kunststoffprodukte, die selbst bei korrekter Anwendung in der Natur, in Gewässern oder im Kompost landen, die es erst gar nicht ins Recycling schaffen. Und mit vielen davon haben wir tagtäglich zutun. Man denke an Kosmetikprodukte, Teebeutel, Kaugummi oder Aufkleber auf Obst und Gemüse.

Wäre hier der Einsatz von biologisch abbaubaren Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen eine sinnvolle Option? Kritiker bezweifeln, dass der biologische Abbau überhaupt Nutzen bringt und setzen auf umfassende Reduzierung, Sammlung und Recycling von Kunststoffprodukten. Sie befürchten zudem, dass biologisch abbaubare Produkte VerbraucherInnen dazu verleiten könnten, die Produkte in der Umwelt zu entsorgen.

Im Projekt „BioSinn – Steckbriefe sinnvoller biologisch abbaubarer Produkte“, welches durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert wurde (Förderkennzeichen 2219NR197), wurde von Expertinnen und Experten des nova-Instituts aus Hürth bei Köln untersucht, ob es Anwendungen und Produkte gibt, für die der biologische Abbau eine sinnvolle oder sogar die beste End-of-Life-Option darstellt. Dabei waren die Auswahlkriterien, dass das Einsammeln der Produkte (oder ihrer Überbleibsel), die Abtrennung der Produkte von sonstigem organischen Abfall oder ein stoffliches Recycling nicht möglich, ökonomisch nicht realisierbar ist bzw. in der Praxis nicht stattfindet. Weitere Kriterien waren, dass durch die Verwendung biologisch abbaubarer Materialien der Eintrag von Mikroplastik in die Umwelt vermieden werden kann oder dass durch die Verwendung biologisch abbaubarer Materialien indirekte positive Effekte, wie z. B. ein relevanter Sekundärnutzen, erzielt werden kann.

Expertinnen und Experten des nova-Instituts konnten zusammen mit dem Projektpartner Institut für Kunststofftechnik der Universität Stuttgart und einem Projekt-Beirat aus Vertretern der Industrie, Wissenschaft und Politik in mehreren Workshops auf dieser Basis 25 Anwendungen identifizieren, für die die biologische Abbaubarkeit eine gute oder sogar die beste End-of-Life-Option darstellt. Diese wurden von allen Seiten beleuchtet: in welchen Umgebungen verbleiben die Produkte genau? Gibt es bereits geeignete biologisch abbaubare Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen für diese speziellen Anforderungen? Wie sehen die marktwirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen aus?

Neben den Produkten, die von Endkonsumenten benutzt werden, wurden auch unbekanntere bzw. unscheinbare Anwendungen aufgedeckt, die einen großen Kunststoffeintrag in die Umwelt verursachen. Die Borsten der meisten städtischen Kehrmaschinen bestehen z. B. aus Kunststoff, der sich abnutzt und unwiederbringlich in der Umgebung verbleibt. Landwirtschaftliche Anwendungen wie Saatgutbeschichtung oder Flockungshilfsmittel, die im Klärschlamm enthalten sind, bestehen oft aus nicht biologisch abbaubaren Polymeren und werden systematisch in die Böden eingetragen. Oder Produkte in der Fischerei, die im Meer verloren gehen. Auch die Kompostströme können durch Kunststoffe verunreinigt werden. 

Das Ergebnis des Projektes ist eine Broschüre für Entscheidungsträger aus Industrie und Politik aber auch für die breite Öffentlichkeit, mit 25 Produktsteckbriefen und umfangreicher Hintergrundinformation zum Thema biologischer Abbau. Für jedes Produkt wird erklärt, inwiefern der biologische Abbau eine sinnvolle und machbare Option ist und welche technischen Substitutionsmöglichkeiten es für einen nachhaltigeren Materialeinsatz gibt. Zudem wurden politische Rahmenbedingungen und Regularien beleuchtet und produktspezifisch ausgewertet. Erstmalig wurden auch die Marktvolumina für Deutschland und die EU erhoben und abgeschätzt. Das Gesamtvolumen der 25 Anwendungen liegt in Deutschland bei rund 170.000 Tonnen und in der Europäischen Union sogar bei etwa 1 Million Tonnen (siehe Grafik), von denen der größte Anteil in die Umwelt gelangt. Hier würde der Einsatz biologisch abbaubarer Materialien erhebliche Umweltvorteile bringen.

Ein Projektziel war, Potenziale für biologisch abbaubare Kunststoffe aufzuzeigen, die bisher oft übersehen wurden. Die öffentliche Debatte dreht sich zu großen Teilen um Verpackungen, diese können und sollten jedoch in aller Regel eingesammelt und recycelt werden. BioSinn konzentrierte sich daher gerade auf solche Anwendungen, bei denen die Sammlung in der Praxis nicht oder kaum möglich ist. So liegt das Volumen bei Anwendungen in der Landwirtschaft durch Flockungshilfsmittel im Klärschlamm, Saatgutbeschichtung, Trägerpolymere für Pestizide und Mulchfolien besonders hoch.

FĂĽr 24 der 25 Anwendungen konnten biologisch abbaubare Substitute fĂĽr die derzeit verwendeten Materialien gefunden werden. Nur bei einer Anwendung ist das nicht gelungen, beim Schmutzradierer. Hier gibt es bislang keine nachhaltige Alternative mit denselben Eigenschaften. Wer Mikroplastik vermeiden will, muss auf dieses Produkt verzichten.

Oft sind die alternativen Produkte teurer, aber vor allem meist am Markt wenig bekannt oder schlecht verfügbar. Oft fehlt den Anwendern und Verbrauchern auch das Bewusstsein um die Problematik und Alternativen. So ist VerbraucherInnen meist nicht bewusst, dass konventionelles Kaugummi aus Plastik besteht oder dass Feuchttücher einen hohen Kunststoffanteil haben, um ihre Festigkeit zu bekommen. In beiden Fällen bleiben Kunststoffe in der Umwelt, die nicht biologisch abgebaut werden. Die aktuelle Gesetzgebung und bestehende Standards stellen oft noch Hindernisse für die stärkere Markteinführung biologisch abbaubarer Produkte in entsprechenden Anwendungen dar, es fehlen die politischen Leitplanken. Dabei könnten in vielen Fällen spezifische politische Maßnahmen eine erhebliche Wirkung erzielen und Märkte für Alternativen öffnen.

Michael Carus, Geschäftsführer des nova-Instituts, fasst die Ergebnisse des Projektes BioSinn zusammen: „Am Anfang des Projektes stand eine Frage: Könnte es Anwendungen geben, bei denen der biologische Abbau die beste End-of-Life-Option darstellt, weil z. B. ein Einsammeln und Recyceln nicht praktizierbar ist? Im Projekt konnten 25 solche Anwendungen gefunden und analysiert werden. Es hat überrascht, dass diese Anwendungen in der Europäischen Union ein Gesamtvolumen von 1 Million Tonnen aufweisen – und das meiste davon gelangt heute noch in Form nicht biologisch abbaubare Makro- und Mikroplastik in die Umwelt. Hier könnte durch biologisch abbaubare Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen erheblich Umweltentlastungen erzielt werden. Wir hoffen, dass unser umfassender Bericht mit 25 Steckbriefen sowohl das Bewusstsein für die Problematik und die Substitutionsmöglichkeiten deutlich erhöht, als auch entsprechende politische Maßnahmen anregen wird.“

Ende April, nach eineinhalb Jahren Projektlaufzeit, einem Workshop in Köln sowie zwei Online-Workshops endet das Projekt mit zwei Online-Abschlusskonferenzen, auf denen die Ergebnisse vorgestellt werden. Aufgrund des großen internationalen Interesses werden die Konferenz sowie auch der Abschlussbericht sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch angeboten. Der vollständige Bericht ist frei verfügbar unter:  http://www.renewable-carbon.eu/publications/

Abschlusskonferenz BioSinn (Deutsch): 28.04.2021 

Abschlusskonferenz BioSinn (Englisch): 30.04.2021

Eine Anmeldung ist möglich über http://www.nova-institute.eu/biosinn

 

*Editorische FuĂźnote vom 23. April 2021:

In einer ersten Version der Pressemitteilung waren 140.000 t fĂĽr Deutschland angegeben, das ist nicht richtig, es sind etwa 170.000 t.